Kein fester Boden und doch fester Stand

von Fernand Braun, Kontemplations-Lehrer und Mitglied der spirituellen Leitung der Kontemplations-Linie „Wolke des Nichtwissens“

Als die Mutter von Hilde Domin starb und gleichzeitig ihr Mann sie verließ, stürzte sie in eine tiefe Lebenskrise und fühlte sich in ihrem Schmerz alleingelassen. Sie schreibt:

„Als Mutter starb und es das einzige Mal im Leben war, dass ich eine Stütze gebraucht hätte, statt zu stützen, dass ich die Empfangende hätte sein müssen, da verließ er mich. […] Ich fand mein Leben mit einem Schlage als widerlegt, wenn die Liebe diese einzige ihr auferlegte Probe nicht ertrug.“

Hilde Domin

Momente, in denen alles zusammenbricht und wir das Empfinden haben, der Boden, auf dem wir stehen, trägt nicht mehr, gehören wohl zu den existentiellsten Erfahrungen vieler Menschen. Ein unvorhersehbares Ereignis, das lebensbedrohlich erscheint, eine Krankheit, die alles infrage stellt, das Ende einer Beziehung von einem geliebten Menschen durch Tod oder Trennung, all dies sind Situationen, die uns in ein Gefühl von Bodenlosigkeit führen. Wir erleben einen Verlust, der scheinbar durch nichts aufgewogen werden kann: Verlust von Leben, von Liebe, von Geborgenheit.

Die Umstände sind nicht mehr zu manipulieren. So sehr wir uns anstrengen, sie lassen sich nicht mehr kontrollieren. Eine solche Situation gleicht einem Spiegel; wir können nicht mehr wegschauen und unmöglich uns zu verstecken!

Schaue ich auf den kontemplativen Weg, ist es genau das, was geschieht, wir geraten regelmäßig an unsere Grenzen. Nirgendwo können wir uns niederlassen. Wir werden buchstäblich aus dem „Nest“ geworfen. In diesem Sinne bedeutet unsere spirituelle Praxis die Bereitschaft, immer wieder aufs Neue zu „sterben“, damit wir wach werden. Wir stoßen zu uns selbst vor und bekommen eine Ahnung, wozu wir (auf)gerufen sind.

Dieses „Sterben auf dem Kissen“, wie die kontemplative Übung manchmal genannt wird, bedeutet letztlich nichts anderes als aus einer inneren Lähmung, der Erstarrung und des Festgefahrenseins in unseren Vorstellungen wieder zurückzufinden in eine andere und neue Lebendigkeit.  Das ist wirkliches Leben – betrachtet vom Standpunkt des Erwachens.

Es sind gerade diese „Erschütterungen“, die uns über uns hinausführen können und die uns Möglichkeit geben, etwas Unzerstörbares zu finden, das trägt und hält! Hilde Domin fand in der Lyrik Halt und Stütze. Sie schreibt: „Da wurden mir die Gedichte gegeben. Ich setzte den Fuß in die Luft, und sie trug. Ich ging weg in eine andere Welt!“

Der einzige Ausweg aus einer solchen Situation ist also der Weg hindurch!

Solche Erfahrungen von „Transzendenz“ führen zu einer tieferen und unverfälschteren Sicht der Dinge, nicht selten gepaart mit einer gesunden Portion Humor. Humor scheint mir geradezu unverzichtbar zu sein auf dem spirituellen Weg. Er schenkt uns die Gabe, über die Dinge und auch über uns selbst lachen zu können.  Im Scheitern kann sich unvermittelt eine gewisse innere Heiterkeit und Leichtigkeit einstellen.

„Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug!“

Hilde Domin

Die Möglichkeit eines „schönen Scheiterns“ zeigt der Film „Alexis Sorbas“ mit Anthony Quinn in der Hauptrolle. Gegen Ende des Films spricht Alexis den bemerkenswerten Satz: „Hast du jemals so schön etwas zusammenbrechen gesehen?“

Seine ganze Arbeit war umsonst. All seine Investitionen hatte er in den Sand gesetzt! Sein Lebenswerk bricht vor seinen Augen zusammen.

Und – Alexis kann sich nicht zurückhalten vor Lachen und zeigt köstlichsten Humor!

Der Humor holt uns aus dem elfenbeinernen Turm unserer Ideale zurück auf den Boden der Alltagsrealität und befreit uns aus der Enge unserer Angst. Er gibt uns die Möglichkeit, aus einer anderen Perspektive auf das Schwere unseres Lebens zu schauen und kann uns in eine andere innere Weite führen, die hält und trägt!


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